Leseprobe

Kapitel 1



„Hallo? Hallo?“

„Nico? Nico, bist du das?“

„Anna?“

„Ja, ich bin´s.“

„Anna! Verdammt! Wo bist du? Was ist passiert? Wie geht’s dir?“

„Ich bin in Spanien. Ich wurde entführt, aber ich bin okay.“

„Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Zeitweise dachten wir, du wärst tot, bis du dich gestern bei deiner Mutter gemeldet hast. Boa! Ich kann gar nicht glauben, dass ich mit dir spreche. Geht es dir wirklich gut? Wo bist du jetzt? Wo sind deine Entführer? Haben sie dir etwas getan? … Was? Ja … das ist Anna … Warum?“

„Nico, bist du noch dran?“

„Aber du kennst sie doch gar nicht.“

„Nico, mit wem sprichst du da?“

„Nein, ich weiß nicht, wo sie ist.“

„Nico?“

„Anna, tut mir leid. Hier möchte jemand mit dir reden.“

„Wer?“

„Hallo, Anna!“

„Hallo! Wer ist da?“

„Ich muss wissen, wo du bist. Kann dich jemand sehen?“

„Ich verstehe das nicht. Wer ist denn da dran?“

„Beantworte einfach meine Frage! Bist du irgendwo in der Öffentlichkeit?“

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„Ja, ich bin am Bahnhof in Zaragoza.“

„Bist du allein?“

„Ja.“

„Wo sind deine Entführer?“

„Sie haben mich freigelassen.“

„Wo und wann?“

„Ich verstehe das nicht.“

„Beantworte meine Frage: Wo habt ihr euch getrennt?“

„Hier am Bahnhof.“

„Ihr alle? Warst du mit allen bis zum Schluss zusammen?“

„Nein, ... zwei sind vorher gestorben.“

„Sie sind tot?“

„Ja.“

„Nenn mir die Namen!“

„Enrico und Diego.“

„Wo ist der Dritte hin?“

„Ich weiß es nicht. Er hat nichts gesagt.“

„Hast du schon mit jemandem gesprochen, seit du frei bist?“

„Nein. Es ist quasi gerade erst passiert.“

„Okay! Dann bleib bei deiner Geschichte. Es werden dich viele fragen, was passiert ist. Achte darauf, dass du denen genau das erzählst, was du mir gerade erzählt hast! Genau das Gleiche! Er ist gestorben! Das ist verdammt wichtig! Kriegst du das hin?“

„Ja, ... ich denke schon.“

„Gut. Mit mir hast du nie gesprochen, ist das klar? Ich gebe dir jetzt wieder deinen Freund.“

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Kapitel 2



Spanien, 1 Jahr später


Er war wie von einem trüben Schleier umgeben. Eingehüllt und gefangen in seinem eigenen Körper, obwohl er diesen eigentlich gar nicht spürte.

„¿Comó está?“ Eine männliche Stimme neben ihm. Unbekannt. Dunkel und kratzig.

„Está durmiendo todavía.“

Er trieb weiter in seiner Schwerelosigkeit. Ein undurchdringbarer Tümpel. Klebrig. Fest und schwer. Ausweglos.

Ein Luftschwall streifte ihn, als wäre jemand dicht herangekommen.

Komm nicht näher, wollte er sagen. Dieser Tümpel war gefährlich. Zu vergleichen mit Treibsand, wenn du einmal drinnen bist, würdest du mit eigener Kraft nicht wieder herauskommen.

Er hörte Geräusche, konnte sie aber nicht genau zuordnen. Waren das etwa Trommeln? Außerdem war es so, als würde ihn jemand anstarren. Warum wurde ihm nicht geholfen? Er fühlte sich nur als kleiner Punkt im undurchdringlichen Schlamm. Irgendwer schaute von oben auf ihn herab, als wäre er eine Spielfigur in einer Sandkiste. Warum wurde ihm das weiter angetan, wenn er doch auch oben auf dem Rand stehen könnte wie alle anderen?

„Avísame cuando se despierte.“ Die kratzige Stimme wieder. Warum war sie so laut? Er wollte sich die Ohren zuhal-

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ten, aber wo waren diese überhaupt? Und wo waren seine Hände?

„¡Claro!“

Er spürte einen erneuten Luftschwall und obwohl er die starrenden Augen nicht sehen konnte, wusste er, dass sie verschwunden waren. Wo waren sie hin? Er musste hinterher.

Verzweifelt versuchte er, sich einen Weg zu graben. Der Nebel sollte sich verziehen. Die zähe Masse musste verschwinden. Er konnte es nicht länger ertragen und spürte ein Stechen in der Brust, als würde er ersticken. Natürlich! Der Nebel drückte ihn ab, der Sand zog ihn mit sich. Beide hatten sich zusammengetan und wetterten gegen ihn. Aber er würde es nicht zulassen. Er würde kämpfen! Jetzt und hier! Gegen den Nebel, den Schlamm, den Druck von oben und die Taubheit.

Er holte tief Luft und spürte mit einem Mal seine Lunge. Sie war frei und unbeschadet. Der Nebel hatte ihr nichts anhaben können. Dann weiter. Das Trommeln war lauter geworden, und er erkannte, dass es sein eigenes Herz war, das gerade zur Höchstform auflief. Gemeinsam mit seiner Lunge würden sie es schaffen. Sie würden ihn hier rausholen.

Auf einmal ging alles schnell. Der Nebel verschwand, als würde er ihn einfach mit jedem Atemzug wegatmen. Oder vielleicht war es auch nur das Trommeln seines Herzschlages, der alles um ihn herum zu Staub pulverisierte. Er tauchte auf und spürte mit einem Mal einen tauben Geschmack im Mund. Die Zunge klebte am Gaumen wie ein alter Lederhandschuh. Er versuchte in seinen Körper zu fühlen und den Rest zu prüfen, aber hatte er überhaupt einen

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Körper? Außer seiner Zunge konnte er rein gar nichts spü-ren.

Ruckartig schnappte er nach Luft und riss gleichzeitig die Augen auf. Sein Herz raste, der Puls trommelte wie wild und ihm wurde schwindelig. Das Bild vor seinen Augen war unscharf.

Sein Brustkorb bäumte sich erneut auf und wurde heftig wieder zurückgeworfen. Schmerz durchzuckte ihn bis in alle Gliedmaßen. Unbeschreiblicher Schmerz. Er wollte schrei-en, aber er wusste nicht, wie das ging. Es tat einfach alles weh. Er hatte den Nebel überwunden, aber was jetzt auf ihn wartete, war nicht unbedingt besser.

„¿Qué pasa?“ , hörte er plötzlich eine aufgeregte Stimme von der Seite. Er drehte langsam den Kopf und sah die verschwommenen Umrisse zweier Personen.

„La infusión está vacía“ , antwortete eine andere Stimme.

„¡Una nueva! ¡Rápido!“

Es klapperte und die beiden Gestalten wirbelten hektisch neben ihm hin und her. Es war für ihn nicht möglich zu erkennen, was sie taten, geschweige denn, wo er überhaupt war.

Sein Körper zitterte und verkrampfte sich wie bei einem Drogenkranken auf Entzug. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, und seine Halsschlagader trat dick hervor.

Diese Schmerzen, dachte er verzweifelt. Diese furchtbaren Schmerzen! Wo war der Nebel hin? Er wollte ihn zurück!

Plötzlich entspannte sich sein rechter Arm, und er konnte die Finger ausstrecken.

Nach und nach zog sich die Entspannung weiter durch

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seinen Körper und erlöste ihn vom Schmerz. Die Atmung wurde wieder ruhiger, und auch der Puls normalisierte sich. Nur in seiner rechten Hand verspürte er weiterhin einen stechenden Druck.

Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Das Bild war jetzt nicht mehr verschwommen. Er sah zur Seite und erkannte die Kanüle in seiner rechten Hand, die mit einem gefüllten Tropf verbunden war.

Nervös drehte er sich hin und her und sah an sich herunter. Bis auf eine kurze Hose war sein Körper komplett nackt und mit lauter Kabeln beklebt, die an den umliegenden Maschinen angeschlossen waren. Unter seinem linken Schlüsselbein erkannte er eine dicke Narbenwulst.

Er bekam Panik und wollte sich aufsetzen, aber sogleich kam eine Hand von der Seite und drückte ihn wieder runter. Neben ihm stand ein kleiner stämmiger Mann mit schwarzen Haaren und einem vernarbten Gesicht. Er nickte ihm beruhigend zu und verstärkte den Druck.

Langsam gab er nach und ließ sich wieder zurückschieben. Hastig wanderten seine Augen in seinem Blickfeld hin und her. Er lag unmittelbar neben der mit Lehm verputzten Wand. Die Decke bestand aus alten schiefen Holzbalken. Mehr konnte er nicht erkennen, weil sich der kleine Mann halb über ihn beugte.

„¿Puedes oírme?“ , fragte dieser langsam und betonte dabei deutlich die einzelnen Silben.

Er war etwas durcheinander, wusste nicht, wo er war und was hier mit ihm passierte, aber er nickte. Er konnte den Mann hören.

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„¿Cómo es tu nombre?“ , fragte der kleine Mann.

Mein Name?, überlegte er. Verwirrt wandte er die Augen ab und schaute zwischen den einzelnen Geräten hin und her, als würde er hier eine Antwort finden.

„¿Cómo te llamas, amigo?“

Wie ich heiße? Er wurde nervös und begann, sich hin und her zu drehen. Ich weiß nicht, wie ich heiße, dachte er. Verdammt! Warum weiß ich das nicht?

Der kleine Mann lächelte zufrieden und trat einen Schritt zurück. Eine große Zahnlücke kam zum Vorschein. „¡Todo está bien!“

Nein, nichts ist gut, dachte er. Warum kenne ich meinen Namen nicht? Warum denke ich auf Deutsch, wenn jemand auf Spanisch mit mir spricht? Warum bin ich hier an diese Geräte angeschlossen? Was ist das für eine Narbe auf meiner Brust?

Er setzte sich auf und löste dabei ein paar Kabel von seinem Körper.

Sofort sprang der kleine Mann auf ihn zu. „¡No, no, no!“

„¿Por qué estoy aquí? ¿Qué están haciendo conmigo?“ , fragte er aufgebracht und war erstaunt, seine eigene Stimme zu hören. Sie kam ihm vollkommen fremd vor.

Plötzlich kamen drei weitere Männer in den Raum gestürmt und warfen ihn schwungvoll wieder auf die Liege. Es half nichts, dass er versuchte, sich zu wehren. Der Druck war zu stark.

Dann verspürte er plötzlich einen Stich in seinem rechten Oberschenkel, und er erkannte die riesige Spritze in der Hand des einen Mannes. Er war immer noch aufgebracht,

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aber plötzlich legte sich seine Wut, und er wurde ruhiger. Die Männer ließen von ihm ab und traten einen Schritt zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sie waren erneut sprungbereit.

Er atmete einmal tief durch und entspannte sich. Die Ruhe kam ziemlich plötzlich und war sehr überwältigend. Sie erinnerte an den Nebel, wenn sie auch nicht ganz so erdrückend war, so gab sie ihm doch Ruhe.

Wer bin ich? Was mache ich hier?, dachte er und versuchte sich zu konzentrieren. Irgendetwas musste ihm doch einfallen. An irgendeine Sache musste er sich doch erinnern. Wo kam er her? Wie alt war er? Wo war er geboren? Hatte er eine Familie? Wie war er hierhergekommen?

Allein mein Name muss mir doch einfallen!

Er wusste keine Antwort. Nicht eine einzige. In seinem Kopf war nichts gespeichert, was ihm auch nur den geringsten Hinweis zu seiner Person gab.

Sein Blick schweifte zu den Männern, die angespannt neben der Liege standen.

„¿Dónde estoy?“ , fragte er ganz ruhig und konzentriert. Er wollte wissen, wo er war, und er musste diese Information abspeichern. Hoffentlich klappte das wenigstens.

Der kleine Mann mit der Zahnlücke schaute die anderen Männer an und wandte sich dann wieder an ihn. „España.“

„¿Y dónde en …?“

„¡No es importante!“ , unterbrach ihn der Mann.

Er starrte an die Decke und versuchte, die Informationen irgendwo einzusortieren. Er war in Spanien. Wo, war nicht wichtig oder sollte er zumindest nicht wissen.

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„¿Qué hago aquí?“ Er sah die Männer flehend an und hoffte, dass sie ihm wenigstens sagen konnten, was er hier machte.

Die Männer lächelten sich an. Dann trat ein großer Mann mit grau werdendem Stoppelbart hervor und hielt ihm ein Foto entgegen. „¿Conoces esta mujer?“

Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Ja, ich kenne diese Frau.

Erleichterung machte sich in ihm breit. Er erinnerte sich an etwas. Wenn er auch momentan nicht wusste, wo er die freundlich lächelnde, blonde Frau einordnen sollte.

Der Mann mit dem Stoppelbart starrte ihn an und war höchst konzentriert. Seine Augen blitzen aufgeregt. „¿Y qué haces con ella?“

Es war deutlich zu spüren, wie angespannt er war.

Er nahm dem Mann das Bild ab und betrachtete die Frau. Was sollte er denn mit ihr machen? Er kannte sie doch gar nicht. Nicht richtig zumindest. Zwar kam sie ihm bekannt vor, er hatte sie schon einmal gesehen, das bestimmt, aber er konnte sich an rein gar nichts erinnern, also hatte er auch keine Ahnung, wer sie war.

„¿Qué haces con ella?“ , wiederholte der große Mann flüs-ternd direkt an seinem Ohr.

Sein Körper verspannte sich. Die Finger krallten sich an der Liege fest und plötzlich wusste er, was zu tun war. Sein Gesicht verfinsterte sich. Warum hatte er überhaupt überlegt? Es war doch eindeutig. Mit einem Mal wurde es ihm klar.

Der Hass brodelte in seinem Inneren und ließ seinen Hals

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anschwellen, dass es wie Feuer brannte. „¡Tengo quematar a esta mujer!“

Die Männer entspannten sich und lächelten zufrieden.

Er wusste nicht, wie er hieß und wer er war, er wusste nicht, wo er herkam, wer diese Männer waren und wie die riesige Narbe auf seiner Brust entstanden war, aber eine Sache wusste er mit absoluter Sicherheit – er musste diese Frau töten.

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