Leseprobe

Kapitel 1

Er vernahm das Plätschern der Wellen, die sachte an seine Hosenbeine schwappten und spürte das kühle Wasser an seinen Waden und in seinen Schuhen. Unter anderen Umständen hätte es vielleicht unangenehm sein können, aber heute empfand er nicht so. Das Wasser gab ihm Ruhe. Vielleicht konnte er so verstehen, was passiert war.
      Vollkommen reglos stand er auf den glitschigen Steinen im knietiefen Wasser. Über ihm dröhnten in regelmäßigen Abständen Lastwagen über die Köhlbrandbrücke und gaben der Szene nur noch mehr Dramatik. Bei jedem Wagen schien die Luft zu vibrieren.
      Doch seine Gedanken kreisten nur um eine Sache.
      Er hatte sie getötet.
      In seinen Händen hielt er ihr Bild, den Beweis für ihre Existenz. Lächelnd und schön. Glücklich.
      Er spürte Trauer. Aber der Schmerz fühlte sich taub an. Trauer war ein ungewohntes und befremdliches Gefühl, das er lange unterdrückt hatte. Was auch immer es jetzt war, es fühlte sich nicht normal an; es war keine richtige Trauer. Trauer sollte wehtun, sollte Schmerzen im Körper verursachen, dass man sich winden und schreien wollte, aber so war es nicht. Die Taubheit benebelte seinen Körper, sodass er gar nichts mehr spürte. Es war egal. Der Umstand einer eingenommenen Schlaftablette würde sich ebenso anfühlen. Seine Augen brannten und schrien nach der kühlen Erlösung der Tränen, doch es floss keine einzige.
      Sein Körper hatte das Weinen verlernt.
Er hatte sie getötet.

1

      Wieder sah er ihr Lachen auf dem Bild. So warm, so herzlich und auf gleiche Weise verletzend, weil sie so unerreichbar war. Er konnte es nicht begreifen. All die Jahre im falschen Glauben. Warum war es so weit gekommen, dass diese Frau sterben musste? Diese wunderschöne Frau, die liebevoll und schützend den Jungen in ihrem Arm anstrahlte.
      Sein Kiefer zitterte, als er abrupt den Blick vom Bild abwandte und geradeaus aufs Wasser blickte. Nicht weit entfernt schob sich ein großes Containerschiff langsam in Richtung Brücke vor. Dröhnend und monoton brummte die Maschine gleichmäßig und unaufhaltsam auf ein und derselben Frequenz. Der Lärm erzeugte einen passenden Gegenpol zum Brausen über ihm.
      Ohne hinzuschauen, entsicherte er seine Glock, die er die ganze Zeit in der anderen Hand gehalten hatte, und setzte sie an seiner Schläfe an. Er kannte sie zu gut, um sich auf die Entsicherung konzentrieren zu müssen. Leider hatte sein Lebensweg ihn so weit geführt, dass er diese Pistole als sein Arbeitswerkzeug betrachtete. Die Bedienung erfolgte dadurch wie im Schlaf.
      Doch genauso wenig wie er Trauer kannte, hatte sein Körper jegliche Angst verloren. Der Lauf der geladenen Waffe an seiner Schläfe regte rein gar nichts in ihm. Es war schon bald erniedrigend, wie egal es ihm war, ob er lebte oder starb.
      Er musste etwas töten.
      Aber er erinnerte sich daran, dass er das hier nicht aus einem Adrenalinkick heraus tat, um sich besser zu fühlen.
      Er tat es, weil er sie getötet hatte.

2

      Nur deshalb war er hierhergefahren, hatte seinen blauen Toyota Supra achtlos auf dem Sandplatz geparkt und war ohne Halt über das grün verwachsene Ufer ins Wasser gegangen, bis er bis zu den Knien in der Elbe stand. Der Tod würde schnell sein, und das Wasser würde seine Leiche ein Stückchen davontragen, bis ihn jemand fand.
      Du hast sie getötet, beschuldigte ihn eine bösartige Stimme in seinem Kopf.
      Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die ganze Trauer in sich aufkommen zu lassen. Er wollte sie spüren, mit jeder Faser seines Körpers. Er verlangte nach den Schmerzen. Er wollte spüren, was ihr angetan worden war. Angst, Schmerz, Trauer, Furcht. Die Panik einer Mutter, die das eigene Kind verzweifelt in den Armen hält, bevor die Bedrohung zu nah kommt und es ihr unwiderruflich aus den Händen gerissen wird.
      All das wollte er ihr abnehmen, denn er war es gewesen, der sie getötet hatte. Sie sollte diese Last nicht tragen. Er war es.
      Immer noch keine Träne.
      Immer noch keine Angst.
      Er war abgestumpft. Nicht mal das kalte Wasser konnte er spüren.
      Worauf wartest du noch? Es hat keinen Sinn! Drück endlich ab!, raunte die Stimme innerlich.
      Nein!
      Ich muss warten. Ich muss ihren Schmerz spüren. Denn ich habe es getan. Ich habe sie getötet.
      Meine eigene Mutter.

3

Kapitel 2

Anna strich sich müde die Hände an der Hose ab. Sie hatte Farbe an den Fingern und in den Haaren. Sie würde unbedingt duschen müssen, bevor sie gleich ihre Nachtschicht begann.

Zufrieden trat sie einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. Das Wohnzimmer erstrahlte in einem frischen cremigen Weiß, die Bilderabdrücke der Vormieter waren verschwunden. Neue Farbe, neuer Lebensabschnitt – eine neue Zukunft in der ersten gemeinsamen Wohnung.

Gemeinsam. Hier war das Wort wieder, das absolut nicht zu dieser Situation passte. Eigentlich hatten sie und ihr Freund Nico heute zusammen hier renovieren wollen, aber er hatte keine Zeit. Wieder mal. Er fand immer eine Ausrede und einen Weg, um den Umzug auf die lange Bank zu schieben.

Seufzend strich Anna den Pinsel am Farbeimer ab und schloss den Deckel. Sie fühlte sich mies und irgendwie allein gelassen. Sie hätten hier längst eingezogen sein können. Die Wohnung stand ihnen seit dem ersten August zur Verfügung. Heute war der Zehnte. Aber nein, wir trödeln noch ein bisschen und leisten uns einfach zwei Wohnungen. Kostet ja auch nichts in Hamburg.

Anna stieß den Farbeimer zur Seite und hörte, wie sich ein Schlüssel in der Wohnungstür drehte. Einen kurzen Augenblick später folgten Schritte im Flur. Schön, dass er auch noch kommt.

Mürrisch machte sie einen Schritt zur Seite und trat aus dem Wohnzimmer heraus. „Da bist du ja endlich.“

4

„Ja, es tut mir leid. Es ging nicht eher.“ Er balancierte einen Karton auf seinen Armen und stieß mit einem Bein die Tür zu. Dann ging er direkt an Anna vorbei in die Küche, wo er den Karton abstellte.

„Was ist das?“, murrte Anna, die ihm gefolgt war.

„Ich dachte nur, ich bringe schon mal ein paar Sachen her. Dann haben wir nachher nicht mehr so viel auf einmal. Wir können einfach jedes Mal, wenn wir hierherfahren, etwas mitbringen. Dann kriegen wir die Wohnung schon mal so nach und nach leer.“

„Damit dann hier alles rumsteht? Wir haben die Küche doch noch nicht mal renoviert? Wo willst du das denn jetzt hinstellen?“

„Ich lass es einfach hier stehen. Hier stört es doch nicht.“

Anna funkelte ihn an, verkniff sich aber ihren Kommentar. Sachen für das Wohnzimmer machten vielleicht Sinn, aber in der Küche war noch gar nichts gemacht worden.

Nicos stahlblaue Augen nahmen seine Freundin prüfend ins Visier. Er hatte eine muskulöse, sportliche Figur und war bestimmt einen Kopf größer als Anna. Seine rotblonden Haare fielen ihm in leichten Wellen in die Stirn, die er jetzt grimmig zusammenzog. „Was ist?“

Vergiss den Karton, dachte Anna und rollte mit den Augen, dann steht er eben hier herum und muss ständig hin und her geschoben werden. „Wo bist du gewesen? Ich dachte, du hilfst mir?“

Jetzt war es Nico, der die Augen verdrehte. „Morgen ist die Projektpräsentation, das habe ich dir doch erzählt!“

„Ja, klar, dein blödes Projekt.“ Anna stapfte wütend ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen.

5

„Einen Entwurf für eine Shopping-Mall in London anzufertigen, sehe ich nicht unbedingt als blöd an. Es ist wahnsinnig wichtig, hast du das vergessen?“

„Ach, und unser Umzug ist nicht wichtig? Wir zahlen gerade zwei Mieten, hast du das vergessen?“

Nico war ihr zum Badezimmer gefolgt und spielte mit einem Stück Tapete, das locker an der Wand hing. „Nein, habe ich nicht. Und genau deswegen ist mir das Projekt ja auch so wichtig. Kennst du noch andere Architekturstudenten, die kurz nach dem Abschluss so eine Chance bekommen wie ich? Tut mir leid, dass ich mich nicht mit einem 08-15-Job zufriedengeben möchte, aber wenn ich bei Schmidt & Berger erst richtig Fuß fasse, dann können wir uns noch was ganz anderes leisten als zwei Wohnungen.“

„Aber wie soll es denn klappen, wenn ich hier alles alleine machen soll, Nico? Hast du nicht neulich noch gesagt, dass du jetzt eigentlich schon fertig sein wolltest?“

„Ich habe es aber nun mal nicht geschafft, okay? Es ist nicht nur eine einfache Hausarbeit, die ich hier abgeben soll. Da steckt schon ein bisschen mehr dahinter.“ Nico hatte nach und nach weiter an der Tapete gezogen und riss einzelne Stückchen ab, die schwirrend auf den Fußboden fielen.

Anna starrte auf ihre Hände und kratzte an den letzten hartnäckigen Farbresten, die beim Waschen nicht hatten abgehen wollen.

„Das Wohnzimmer ist auf jeden Fall fertig. Hast du wenigstens die Rollläden besorgt?“

Sie sah auf und in Nicos verzogenes Gesicht.

„Verdammt, da habe ich gar nicht mehr dran gedacht.“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst?“

6

Nico schüttelte den Kopf und kniff die Lippen fest aufeinander. „Das habe ich total vergessen.“

Anna boxte ihm wütend in den Bauch und schob sich schnaubend an ihm vorbei. „Es kann echt nicht angehen!“ Sie lief ins frisch renovierte Wohnzimmer und hätte am liebsten die Tapete von den Wänden gerissen.

„Dann holen wir sie eben morgen, Anna!“, versuchte Nico sie zu besänftigen und folgte in den großen Raum mit Südbalkon und Parkettfußboden. „Das ist doch jetzt nicht so schlimm.“

Anna hatte ihm den Rücken zugedreht und hielt sich die Hände vor das Gesicht.

„Sag mal, weinst du jetzt etwa?“

Anna wischte sich einmal durch das Gesicht. Sie weinte nicht. Noch nicht zumindest und wollte es auch nicht. „Weißt du nicht mehr, dass das Angebot nur noch bis heute lief? Morgen müssen wir fast das Doppelte dafür bezahlen.“

„Dann ist das eben so. Oder wir warten auf ein neues Angebot.“

„Wir warten. Klar. Wir warten. Lass uns doch einfach noch ein halbes Jahr in diesem Zustand verbringen!“, fauchte sie und drehte sich zu ihm herum. Sie kochte vor Wut.

„Anna, ich habe es vergessen“, brüllte er zurück. Sein Kopf war gerötet und auf seiner Stirn hatte sich eine dicke Ader gebildet.

„Wir hatten einen Plan.“ Mit zittrigen Fingern und jetzt doch etwas feuchten Augen fischte Anna einen zerknitterten Zettel aus ihrer Hosentasche und faltete ihn auseinander. Sie hörte Nico aufstöhnen, achtete aber nicht auf ihn. Sie hatten

7

sich das Wohnungsprojekt gemeinsam überlegt und einen Plan gemacht, wann sie wie weit mit der Renovierung sein wollten, wann welche Anschaffung gemacht werden sollte und wie die zukünftige Aufgabenverteilung geregelt werden würde.

Anna hatte für alles einen Plan. Sie brauchte immer alles auf dem Papier, damit sie den Überblick hatte. Als sie und Nico vor sieben Jahren zusammengekommen waren, hatte er ihre Pläne euphorisch geteilt. Wenn Anna manchmal genauer darüber nachdachte, hatte sie sogar eher das Gefühl, dass die ganze Plansache sein Ding war und er es in die Beziehung gebracht hatte.

Damals, als sie mit der Schule fertig waren, Anna ihre Ausbildung als Krankenschwester begann und Nico nach ein paar Versuchssemestern in Jura, Betriebswirtschaftslehre und Geschichte schließlich in der Architektur seine Berufung gefunden hatte, waren Pläne ständig an der Tagesordnung. Und am meisten machte es noch Spaß, gemeinsam zu planen. Sich die Zukunft auszumalen, Ideen zu entwickeln, Ziele zu überlegen, die man erreichen wollte. Doch in letzter Zeit war irgendwie nur noch Anna diejenige, die Pläne machte. Gemeinsame Pläne.

„Vergiss den Plan, Anna. Du kannst nicht alles festsetzen.“ Er drehte sich zur Seite und verschwand aus dem Wohnzimmer. Die Tür ließ er unsanft hinter sich zufallen.

Anna sackte in die Knie und ließ sich gedemütigt an der Wand niederrutschen. Da haben uns die Nachbarn ja schon gut kennengelernt, dachte sie. Tolle erste Wohnung mit dem abertausendsten Streit.

Nico hatte sich verändert in den letzten Wochen, viel-

8

leicht sogar Monaten. Er war unheimlich leicht reizbar. Bei jeder Kleinigkeit gerieten sie aneinander. Natürlich hatte er viel um die Ohren. Er war erst seit Anfang des Jahres bei Schmidt & Berger beschäftigt, und dieses Projekt in London war eine große Chance. Es könnte sein Durchbruch sein, da hatte er schon recht. Aber durfte er sie deswegen immer links liegen lassen? Es war nicht nur heute, dass er sich nicht an Abmachungen und Termine hielt. In der letzten Zeit kam es öfter vor, und Anna hatte in den letzten Tagen mehr als einmal Zweifel gehabt, ob die gemeinsame Wohnung wirklich die richtige Entscheidung war. Auch wenn sie diese wirklich gemeinsam geplant hatten.

Sie wischte sich durch die feucht gewordenen Augen und stand wieder auf. Der Sensor, der in ihrem Körper für die Tränendrüsen zuständig war, funktionierte immer viel zu empfindlich. Egal, ob Trauer, Wut oder Freude – eine Träne war mit Sicherheit drin.

Dann hörte sie Schritte im Flur. Nico ging zur Wohnungstür.

Angestrengt lauschte sie und hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Geht er jetzt etwa weg?

Schnell riss sie die Wohnzimmertür auf und starrte ihn verwirrt an.

„Wir holen sie morgen“, murrte Nico, während er bereits in der Wohnungstür stand. „Ich bezahl sie auch.“

„Wo gehst du hin?“

„Nach Hause.“

„Nico, warte!“ Anna machte einen Satz auf ihn zu, um ihn zum Halten zu bewegen.

Er blieb stehen und sah sie fragend an.

9

Anna wartete einen Moment, dann trat sie langsam vor. „Tun wir das Richtige? Mit der Wohnung, meine ich.“

Nico sah sie verwundert an, als wäre es für ihn eine komplett neue Möglichkeit, an die er vorher noch gar nicht gedacht hatte. Im gleichen Moment bereute Anna ihre Frage, weil sie Angst hatte, ihn jetzt auf eine Idee gebracht zu haben. Sie sah ihn weiter an, aber er sagte nichts.

„Ich meine nur, weil … irgendwie ist doch bei uns momentan der Wurm drin, oder?“ Anna hatte die Augen weit geöffnet und trat dicht vor ihn. „Möchtest du wirklich mit mir zusammenziehen?“

Nico räusperte sich und schloss die Wohnungstür. „Ich weiß nicht, ich glaube schon. Möchtest du denn?“

„Ja, aber ich weiß nicht, ob es das Richtige ist.“

Er griff nach einer ihrer blonden Locken, die ihr ab und zu ins Gesicht hingen. „Wie sollen wir es erfahren, wenn wir es nicht versuchen?“

„Vielleicht ist der Abstand mit den zwei Wohnungen gerade richtig für uns.“

„Nein“, widersprach er. „Diese Wohnung ist der absolute Traum. Und darum werden wir beide hier auch einziehen. Hast du deinen Plan vergessen?“ Er lächelte, aber Anna fand, dass es nicht besonders überzeugend wirkte.

10

Kapitel 3

Er hielt die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf den Schmerz, der nicht einziehen wollte. Das Containerschiff war mittlerweile direkt vor ihm, sodass er nicht mal mehr die Last-wagen auf der Brücke hören konnte.

Aus diesem Grund hatte er auch nicht den herbeifahrenden Wagen gehört, der mit Schwung auf den Sandplatz rauschte und neben seinem Toyota hielt. Eine Autotür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Schritte eilten in seine Richtung. Doch alles, was er schließlich registrierte, waren die panischen Worte, die ihm zugerufen wurden: „Eh, Santo! ¿Qué haces ahí?“

Er atmete tief durch und öffnete die Augen. Ja, was machte er hier eigentlich?

Während er auf die verschiedenen Container sah, die sich langsam an ihm vorbeischoben, ließ er wie in Zeitlupe seine Glock sinken. Er fühlte nichts. Und das war erbärmlich. Weder Freude noch Trauer, weder Genugtuung noch Feigheit, weil sein Bruder jetzt gekommen war und ihn von seinem Suizid abbrachte.

„¿Qué haces, cabrón? ¡Sal del agua!“

Er warf noch einen letzten Blick auf das Bild seiner Mutter und drehte sich langsam um.

¡Lo siento, mamá!

Er bewegte sich langsam aus dem Wasser heraus. Seine Beine waren durch die Kälte steif geworden und führten nur widerwillig ihren Dienst aus. Er musste fast schmunzeln, als er tatsächlich die Kälte wahrnahm. Vielleicht war er doch nicht ganz taub.

11

Sein Bruder tänzelte unterdessen nervös am Ufer auf und ab und schien offenbar kurz davor, ihn mit den Händen aus dem Wasser zu ziehen und sich selbst nasse Füße zu holen.

Sobald Santo das trockene Ufer erreicht hatte, wurde er von seinem Bruder an den Schultern gepackt und fing sich eine Ohrfeige ein. Ohne sich zu wehren, ließ er den Kopf zur Seite hängen und genoss das brennende Ziehen auf seiner Wange. Endlich durfte er den Schmerz spüren, den er verdient hatte.

„¿Estás loco? ¿Por qué quieres suicidarte, cabrón? ¡DIME!“

Um die Frage zu beantworten, hob er das Bild seiner Mutter an. Sein Bruder sollte selbst wissen, was passiert war. Vielleicht würde er dann verstehen, warum er sich umbringen wollte.

Santo hatte das Bild gerade mal auf halber Höhe vor seinem Körper angehoben, als sein Bruder auch schon einen Schritt nach hinten trat. Obwohl er ihre Mutter aus dem Winkel nicht hatte erkennen können, verriet er sich durch sein Verhalten. Er kannte das Bild, er wusste, was passiert war.

„¿Qué es …?“ , begann er seine Frage, stockte aber und starrte fassungslos das kleine abgewetzte Foto an.

„¿Lo sabias?“ Santo betete innerlich, dass sein Bruder das Foto noch nie gesehen hatte und nichts vom Mord an ihrer Mutter wusste, aber irgendwie spürte er, dass er sich irren musste.

Sein Bruder kniff die Augen zusammen und verzog das Gesicht, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber doch anders. Für Santo war es Antwort genug.

„¿Por qué?“ , fragte Santo. Sein Bruder wusste Bescheid.

12

Warum? Seit wann? Warum hatte er nie etwas gesagt? Wie hatte er so leben können?

„¿De dónde sacaste eso?“ , antwortete sein Bruder mit einer Gegenfrage auf das Warum.

„¿Es importante? Nuestra madre fue asesinada.“

Sein großer Bruder lächelte und warf einen verlegenen Blick in Richtung Containerschiff, als würde er hier die Antwort finden. „Es ist ewig her“, sagte er schließlich auf Deutsch.

Santo musterte ihn skeptisch. Immer wenn er die Sprache wechselte, egal ob von Deutsch auf Spanisch oder umgekehrt, bedeutete es, dass Joyo etwas ernst meinte und seinem kleinen Bruder dadurch signalisierte, dass er die Grenze nicht überschreiten sollte.

Joyo war ein Stückchen kleiner als Santo und auch um einiges kräftiger. Man könnte durchaus behaupten, dass beide dieselbe Körpermasse hatten, diese bei Santo allerdings in die Höhe und bei Joyo in die Breite aufgeteilt war. Als er weitersprach, zog sich die gebräunte Haut auf seiner Stirn unter den kurzen schwarzen Haaren nachdenklich zusammen. „Du hast doch immer gewusst, dass sie tot ist. Warum sind wir sonst hier? Was macht das für einen Unterschied?“

„Es war kein Unfall!“, antwortete Santo jetzt ebenfalls auf Deutsch. „Ich finde, das ist ein entscheidender Unterschied. Hast du gesehen, dass unser ‚Vater‘ mit auf dem Bild zu sehen ist? Ist dir klar, was das bedeutet? Sie waren damals schon im Spiel!“

„Du solltest aber auch nicht vergessen, was Frank für uns getan hat!“ Offenbar versuchte Joyo erneut, seinen Bruder von dieser schmerzhaften Erkenntnis abzulenken.

13

„Der Grund sollte dir doch wohl klar sein. Es wurde nicht aus Nächstenliebe gehandelt, falls du das denkst.“ Santo kochte vor Wut. Joyo schien all die Jahre gewusst zu haben, wie ihre Mutter getötet worden war und es war ihm egal. Was als aufopferungsvolle Rettung angesehen wurde, war nichts anderes als ein Geschäft, mit dem sie täglich konfrontiert wurden.

Santo wand sich mit einer schnellen Bewegung aus dem festen Griff seines Bruders und drehte sich um. Es war zu viel für ihn. Er musste nachdenken. Den Sinn verstehen, den Joyo vielleicht darin sah, was ihnen passiert war und was sie hier machten.

„Wo willst du hin?“ Joyos Stimme verriet Panik. Der beinahe Suizid seines Bruders hatte ihm deutlich gemacht, wie ernst es Santo war.

„Weg!“, war die einzige Antwort, die Santo für seinen Bruder übrighatte. Er war zu seinem Wagen gelaufen und schwang sich hinter das Lenkrad seines flachen Sportwagens.

Mit lautem Knurren ließ er den Motor aufheulen und schoss im nächsten Moment mit durchdrehenden Reifen vom Sandplatz. In der Staubwolke hinter sich sah er gerade noch, wie Joyo in seinen BMW stieg, um ihm zu folgen.

Santo lächelte bei der Erkenntnis, dass er ihn niemals einholen würde. Er trat das Gaspedal weiter runter und freute sich über seinen 2500 Kubikmotor mit 401 PS.

14