Leseprobe

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich freue mich, dass Sie sich für eins meiner Bücher interessieren. Gerne nehme ich Sie mit auf eine kleine Lesereise durch:

Dachbodenfund

Prolog

Die kühle Luft des zu Ende gehenden Sommertages. Die Dämmerung ist angebrochen. Jeden Schatten ausnutzen. Wohin?

Der Wald. Hier ist es noch dunkler. Überall Nebel. Die Schmerzen sind fast unerträglich. Das blutige Hemd klebt am Körper. Weiter! Immer weiter!

Auf einmal ein Geräusch. Der schnelle Blick nach hinten. Die Verfolger. Männer. Hunde. Sie haben bereits eine Fährte aufgenommen.

Weiterlaufen! So schnell du kannst. Immer weiterlaufen! Die Lunge meldet sich mit Stichen. Egal, weiterlaufen!

Da ist der Fluss. Dahinter die Straße. Rettung. Freiheit. Immer weiter! Immer weiter! Nicht stehen bleiben!

Die Straße ist erreicht. Dann plötzlich der Schock. Die Verfolger sind direkt hinter dir. Weiter! Auf der Straße laufen. Das Blut rauscht in den Ohren. Das Herz pumpt wie verrückt. Die Lunge ist am Limit.

Dann das Licht. Dieses schnelle Licht. Der kurze Schmerz. Der Blick in die Sterne. Keine Wolke am Himmel. Sie rufen dich. Der Friede ist da.

Ich komme. Ich gehe nach Hause.

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Kapitel 1

Hamburg, 16 Jahre später

Sandra schlängelte sich ungeduldig durch den Berufsverkehr. Es war mal wieder unmöglich, aus Hamburg herauszukommen und dabei die Nerven zu behalten. Außerdem war es unverschämt heiß heute. Viel zu heiß für einen Umzug. Warum hatten sie nicht letztes Wochenende umziehen können? Da war es wesentlich kühler gewesen.

Aber jetzt waren sie mit dem Gröbsten durch. Sie hatte die Schlüssel zu ihrer alten Wohnung abgegeben und ihrem schmierigen Vermieter Lebewohl gesagt.

Sieben Jahre hatte sie in Hamburg in ihrer kleinen Wohnung gelebt. Zu ihrer Studentenzeit, oder auch Sturm-und-Drang-Zeit, wie sie es gerne nannte, hatte sie sich nichts Schöneres vorstellen können. Aber jetzt war sie verheiratet und hatte eine kleine Tochter. Ein komplett anderes Leben.

Und das passte einfach nicht in eine kleine Wohnung in der Großstadt. Für sie gehörte so etwas aufs Land, genauer gesagt nach Seesby, einem kleinen Dorf mit knapp zweihundert Einwohnern. Dort hatten sie und Marvin sich ein schönes Häuschen mit Garten gekauft. Für Sandra war es immer schon ein Traum gewesen, auf dem Land zu leben. Jetzt hatte er sich endlich erfüllt.

In Seesby würde es keinen neunmalklugen und dennoch unfähigen Vermieter geben. Hier hatten sie ihr eigenes Haus und mussten sich nicht mit nervigen Nachbarn herumschlagen, die nur eine Wand entfernt wohnten oder hausten.

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Der Lebensabschnitt mit Kautionszahlungen und Mieterhöhungen war vorbei.

Sie atmete tief durch und überlegte, ob die Wolken in der Ferne sich wohl noch für ein abkühlendes Gewitter eignen würden. Was würde sie jetzt für einen erfrischenden Regenguss geben…! Ihr Hemd klebte am Rücken. Das nächste Auto würde definitiv eine Klimaanlage haben.

Jede Ampel schien heute gegen sie zu sein. Aber dann kam schließlich doch die langersehnte Auffahrt zur Autobahn und sie genoss den warmen Wind, der durch das offene Fenster wehte. Was gab es Wohltuenderes als eine weite, freie Fahrbahn und den Gedanken an ihr gemütliches neues Zuhause, das sie anzog wie ein Magnet…

Sie fuhr an einer Raststätte vorbei und überlegte, ob sie kurz anhalten und auf die Toilette gehen sollte. Was zu trinken könnte sie auch gut haben, aber dann sah sie am Straßenrand ein Schild: Rugstedt 38 km. Das würde sie noch schaffen, dachte sie. Rugstedt war der etwas größere Nachbarort von Seesby.

In Seesby gab es nur eine Kirche mit Gemeindehaus, eine Bushaltestelle und einen kleinen Tante-Emma-Laden, der allerdings auch sonntags geöffnet war, wie der Makler ihnen damals erzählt hatte. Rugstedt dagegen bot schon einiges mehr. Hier gab es ein Einkaufszentrum mit allerlei Läden.

Für Sandra und Marvin war außerdem wichtig, dass es hier einen Kindergarten und eine Schule gab, die beide einen sehr guten Ruf hatten. Von Seesby nach Rugstedt waren es etwa vier Kilometer und ein Schulbus fuhr in Seesby fast bis vor die Haustür.

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Für Sandra war das alles schon ein bisschen zu perfekt und oft dachte sie, dass ein einziger Mensch gar nicht so viel Glück haben konnte, weil es anderen gegenüber unfair war.

Die Ausfahrt nach Rugstedt kam. Sandra ordnete sich rechts ein und war auf einmal aufgeregt wie ein kleines Kind. Jetzt ging es endlich nach Hause!

Sie durchquerte Rugstedt und bog dann auf die kleine, kurvige Straße in Richtung Seesby ab. Hier gab es nicht mal mehr einen Mittelstreifen. Die komplette Einöde, abgesehen von ein paar vereinzelten Höfen. Aber das war genau das, was sie wollte. Ab hier herrschten Ruhe und Frieden – so kam es ihr zumindest vor. Der Großstadtlärm war weit hinter ihr geblieben.

Sie überfuhr noch zwei weitere Hügel und dann sah sie das Ortsschild Seesby. „Ich bin da!“, sagte sie und warf sich selbst im Rückspiegel ein strahlendes Lächeln zu.

Dann fuhr sie über die Weeder, einen etwa drei Meter breiten Fluss, der sich durch den Wald und die Hügel der Gegend schlängelte. Sie atmete tief durch und fühlte sich mit einem Mal frei – so etwas hatte sie in der Großstadt nie gespürt.

Seesby bestand hauptsächlich aus alten Bauernhöfen, von denen allerdings nicht mehr viele in Betrieb waren. Mittlerweile waren einige der alten Stallungen zu Ferien­wohnungen umgebaut worden oder sie wurden als Stellplätze für Wohnwagen und Segelboote vermietet. Von außen waren sie trotzdem alle noch im alten Stil erhalten und wirkten sehr gepflegt.

Neben den Bauernhöfen gab es hier noch einige

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Einfamilienhäuser, die aus dem vorherigen Jahrhundert stammten oder teilweise noch älter waren.

Sandra hatte sich sofort in diese Idylle verguckt, als sie das erste Mal hier gewesen waren. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein.

Kapitel 2

Marvin war bereits vorgefahren, um die Arbeit des Umzugsunternehmens im neuen Haus zu koordinieren. Es lief ziemlich reibungslos und sie waren schnell fertig. Schließlich war der Möbelwagen leer und abfahrbereit.

Er ging mit den Möbelpackern nach draußen. Die Luft roch warm und trocken. Kein Wetter, um schwere Schränke zu schleppen. Er war durch und durch nass und freute sich auf eine Dusche.

Die Männer der Umzugsfirma setzten sich in den Schatten und rauchten Zigaretten, während Marvin nach Sandra Ausschau hielt. Eigentlich müsste sie bald kommen. Hoffentlich war alles glatt gegangen und der Vermieter hatte nicht zu viel zu beanstanden gehabt.

Er schlenderte über den Hofplatz und sah sich um.

Anders als die meisten Häuser in Seesby stand ihres nicht direkt an der Straße. Es wurde durch eine schmale Birkenallee ein Stück zurückversetzt und lag auf einem kleinen Hügel.

Es war mit rotem Backstein gemauert und hatte große, braune Sprossenfenster. Zur schweren Eingangstür aus Eiche mit allerlei Schnitzereien führte eine breite Steintreppe,

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die auf der ersten Stufe von zwei Säulen mit Löwenköpfen eingegrenzt wurde. Das Motiv fand sich auch über der Tür in Stein gemeißelt wieder und bildete den Anfang des Giebels über dem Eingang. An der Südwestseite des Hauses erstreckte sich ein etwas höher liegender Erker, der rundherum mit Fenstern bestückt war und eine herrliche Aussicht erlaubte. Sein Dach war wie ein alter Hexenhut geformt und verlieh dem Ganzen etwas Mystisches.

Der alte Schuppen rechts neben dem Haus hatte früher als Schmiede gedient. Mit der Zeit waren Feuerstelle und Amboss aber entfernt und durch einfache Gartengeräte und eine kleine Werkbank ersetzt worden. Marvin hatte überlegt, den Schuppen noch weiter umzubauen und eine Garage für zwei Autos einzurichten.

Auf der Straße kam ein Wagen, aber Marvin erkannte schon von Weitem, dass es nicht Sandra war. Knatternd fuhr das Auto an der Zufahrt vorbei.

Es war das erste Fahrzeug, das Marvin heute hier sah. Allerdings war er die meiste Zeit mit Ausladen und Tragen beschäftigt gewesen, aber er vermutete, dass es hier auch sonst wohl nicht mehr Verkehr gab. Das komplette Gegenteil zu ihrem vorherigen Leben – wahrscheinlich musste man sich erst mal daran gewöhnen.

Dann entdeckte er auf der Hauptstraße endlich einen kleinen, wei-ßen Nissan Micra, der schließlich in die kleine Birkenallee einbog, über die er dann hoppelnd zum Haus fuhr.

Direkt neben dem Umzugslaster hielt der Wagen an und eine kleine, zierliche Frau mit braunen, schulterlangen

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Haaren stieg aus. Sie sah sich um und der leichte Wind spielte mit ihren Locken. Ihr Gesicht erstrahlte, als sie Marvin erblickte.

Marvin lächelte zurück. Es war faszinierend, dass er trotz der langen Zeit, die sie nun schon zusammen waren, immer noch dieses warme Gefühl in seinem Inneren verspürte, wenn er sie sah. Ohne Sandra war er nicht mehr komplett.

*

Sandra ging lächelnd auf den Mann mit den warmen braunen Augen und dem Dreitagebart zu. Seine dunklen Haare fielen ihm in die Stirn. Er sah zufrieden und glücklich aus – genau so, wie sie sich fühlte.

„Da bist du ja endlich“, sagte er. „Hat alles geklappt?“

Sandra atmete einmal tief durch und ergriff seine Hände, die er ihr entgegenstreckte. „Ja. Alles erledigt. Das Kapitel Mietwohnung ist abgeschlossen.“

„Na, dann“, sagte Marvin mit einem spitzbübischen Lächeln, „darf ich bitten?“ Er hielt ihr seinen rechten Arm hin, damit sie sich einhaken konnte.

Sandra lächelte. „Nur zu gerne!“

Gemeinsam gingen sie die Treppe hinauf.


Hier mache ich einen kleinen Sprung, liebe Leserinnen und Leser. Die kleine Familie hat inzwischen alles ausgepackt und dabei festgestellt, dass sie für einen Raum im Obergeschoss keinen Schlüssel bekommen haben. Da sie von der Größe des neuen Eigenheims allerdings so überwältigt sind, steht dieser Raum noch nicht an oberster Priorität. Ihre Nachbarin Frau Hauser sowie die freundliche Madeleine haben sich vorgestellt und jetzt beginnt langsam der Alltag...

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Kapitel 6

Am Montag war Marvin wieder früh zur Arbeit gefahren. Sandra stand kurz nach ihm auf und brachte Sophie zu ihrer Mutter, damit sie ungestört den Rasen vertikutieren konnte.

Es war immer noch heiß. Der Boden war knochentrocken und staubig. Nicht die richtige Zeit, neuen Rasen zu säen, dachte sie, aber es ließ sich jetzt nicht ändern. Bei Regen konnte man das Moos nicht entfernen.

Sie hatte eine alte Jeans abgeschnitten, um eine kurze Hose zum Arbeiten zu haben, und trug ein altes Shirt mit Spaghetti-Trägern. Sandra fand keine Sonnencreme, aber ohne ging es bei dem Wetter nicht. Sie würde bei Madeleine im Laden schnell eine kaufen, da sie ohnehin noch bei Stiezels den Rasenmäher holen musste. Nach ein paar Schritten merkte sie bereits, wie die Sonne auf ihren Schultern brannte.

Bei Familie Hauser lag wieder der Schäferhund vor der Tür. Frau Hauser stand in der Nähe mit einer großen Sonnenhaube auf dem Kopf und hackte in einem Beet. Sandra bezweifelte, dass sie bei dem harten Boden überhaupt irgendeine Wirkung erzielte.

Frau Hauser winkte ihr zu. Sandra grüßte zurück. Die Nachbarin hätte bestimmt mit ihr plaudern wollen, aber Sandra wollte ihre Haut nicht länger als nötig ungeschützt der sengenden Sonne aussetzen. Außerdem hatte sie heute noch so viel vor.

Sie ging weiter und erreichte Renates Dorfladen.

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Angenehm kühle Luft kam ihr entgegen, als sie die Tür öffnete. Madeleine stand hinter dem Tresen und nickte ihr nur kurz zu, da sie gerade einen Kunden bediente. Sandra suchte die Sonnencreme und nahm sich eine Flasche.

Auf dem Weg zur Kasse warf sie einen Blick in die Eistruhe, die bei diesem Wetter verführerisch wirkte. Nein, sie würde warten und sich später nach getaner Arbeit belohnen.

Der Kunde war fertig und drehte sich zum Gehen um. Er war riesengroß und bestimmt doppelt so breit wie Marvin. Sein Oberkörper wirkte, als hätte man ihn wie einen Luftballon aufgeblasen. Eine fast schon übertrieben große Brille, wie Sandra sie aus Spaß mal zum Fasching getragen hatte, ließ seine Augen monströs erscheinen. Auf dem unförmigen großen Kopf lagen dünne, strähnige Haare wirr durcheinander. Würde man Darsteller für Die Schöne und das Biest suchen, hätte er sofort eine Hauptrolle bekommen, ohne vorher lange in der Maske sitzen zu müssen.

Er sah Sandra kurz ins Gesicht. Dann blieb sein Blick auf Brusthöhe hängen und verweilte dort.

„Das ist dein Nachbar, Sandra. Heinrich Hauser“, sagte Madeleine.

Sandra schluckte. Sie hatte sich einiges unter ihrem neuem Nachbarn vorgestellt, aber nicht das Ebenbild von Shrek. Dennoch behielt sie ihre Fassung und streckte ihm die Hand entgegen. „Guten Tag, ich bin Sandra Losberg“, sagte sie, während ihre Hand in seiner Pranke verschwand.

„G-g-guten T-tag. I-ich bin Ha-Heinrich Ha-Hauser“, stotterte er. „I-ich ha-hab Sie sch-schon ge-gesehen.“

Madeleine warf Sandra einen warnenden Blick zu.

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Heinrich hatte das sofort gemerkt und versuchte sich rauszureden. „I-ich mein’, a-als Sie ein-eingezogen sind. Da-da ha-hab ich Sie ge-gesehen.“ Er wischte seine nassen Hände an der dreckigen, abgenutzten Arbeitshose ab.

Sandra nickte. Sie konnte verstehen, dass es für Heinrich schwer war, eine Frau zu finden. Aber sie war sich sicher, dass es nicht an der Arbeit auf dem Hof lag, wie Frau Hauser behauptet hatte.

Er wandte sich um und verabschiedete sich schnell. Sandra und Madeleine schauten ihm nach.

„Und? Was sagst du? Ist der nicht heftig?“, fragte Madeleine, die Heinrich offensichtlich als eine Art Dorfattraktion ansah.

„Heftig kräftig“, witzelte Sandra. „Der passt hier ja kaum durch die Tür.“

„Du sagst es. Dem will ich nicht allein im Dunkeln begegnen.“

Sandra bezahlte die Sonnencreme und ging dann hin­über zu Herrn Stiezel, um den Rasenmäher zu holen.

*

Sie brauchte zum Vertikutieren länger, als sie gedacht hatte. Das Grundstück war einfach zu groß und das Moos so reichlich und hartnäckig, dass sie wiederholt darüberfahren musste und es doch nicht weniger zu werden schien. Überall auf dem Rasen waren große Mooshaufen entstanden.

Den ganzen Montag und den halben Dienstag verbrachte sie auf dem Mäher oder mit dem Rechen in der Hand. Im Stillen verfluchte sie ihren Garten.

Am Dienstagnachmittag hatte sie keine Lust mehr.

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Sandra war den ganzen Garten mehrmals rauf und runter gefahren und kannte ihr Grundstück mittlerweile besser, als ihr lieb war. Die Zeit in der heißen Sonne auf dem staubigen Boden strengte an und machte müde.

Sie ging ins Haus, zog ihre staubigen Sachen aus und holte sich ein Erfrischungsgetränk aus dem Kühlschrank. Für einen Moment setzte sie sich in Unterwäsche in die Küche und ruhte sich aus. Durch das Fenster konnte sie ihre Mooshaufen erkennen.

Zufrieden hüpfte sie unter die Dusche. Ihr Körper war verstaubt und klebrig. Das kühle Wasser fühlte sich so gut an, dass sie gar nicht wieder heraus wollte.

Als sie fertig war, wickelte sie sich ein Handtuch um die Brust und brachte ihre staubigen Sachen in den Wäschekorb. Jetzt aufs Sofa und die Füße hochlegen, bis Sophie gebracht wird, dachte sie.

Sie hatte ihre Kleidung gerade im Heizungsraum abgelegt, als eine Gestalt am Fenster vorbeihuschte.

Vor Schreck warf sich Sandra auf den Boden, so dass sie ihr Handtuch verlor. Sie hatte durch die Milchglasscheibe nur einen Umriss sehen können und nicht erkannt, wer es war. Sie suchte ihr Handtuch und hielt es ganz fest, als sie aufstand. Langsam und geduckt pirschte sie sich zur Hintertür, um aus dem kleinen Fenster zu gucken.

Es wird Marvin sein, dachte sie, vermutlich war er eher fertig. Aber warum schleicht er durch den Garten? Andererseits wäre Marvins Schatten deutlich kleiner, oder?

Ihr Herz begann zu rasen, als ihr plötzlich jemand einfiel, der diese Größe haben könnte. Verdammt! Er hatte sie schon

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so angestarrt, als sie ihn im Laden getroffen hatte. Ihr ausgeleiertes Shirt hatte ihn bestimmt aufgegeilt.

Sie presste sich an die Hintertür und stand langsam auf. Vorsichtig schaute sie durch das kleine Fenster in der Tür, so dass von außen vielleicht gerade mal ihre Stirn und die Augen zu erkennen waren.

Es war niemand zu sehen. Bis auf die Mooshaufen sah der Garten aus wie immer.

Sie zitterte vor Anspannung und auch ein bisschen vor Kälte. Vermutlich habe ich einen Sonnenstich und sehe schon Gespenster, dachte sie.

Sandra wollte sich gerade umdrehen, als direkt vor dem kleinen Fenster in der Tür ein Gesicht auftauchte und sie anstarrte.

Vor Schreck schrie sie laut auf und hätte fast erneut ihr Handtuch verloren. Ihr Herz machte einen riesigen Luftsprung und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

Der Mann vor dem Fenster starrte sie immer noch unbewegt an. Es war Heinrich.

Sandra konnte sich nicht bewegen. Sie wusste überhaupt nicht, was sie machen sollte. Was wollte er hier? Die anderen hatten wahrscheinlich recht. Er hatte sie beobachtet und das gewiss nicht zum ersten Mal. Er wusste vermutlich, dass sie gerade geduscht hatte und jetzt nur mit einem Handtuch bekleidet alleine im Haus herumlief.

Vor der Tür tat sich etwas. Heinrich bewegte sich kurz und drückte dann die Klinke herunter.

In Sandras Kopf überschlugen sich die Gedanken. War die Tür unverschlossen? Ja, klar, Sandra war gerade erst

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reingekommen. Konnte sie noch schnell abschließen? Nein, zu spät! Er kommt hier rein, dachte sie panisch. Sie sah vor sich schon die Schlagzeilen – Junge Mutter von perversem Nachbarn vergewaltigt und brutal ermordet. Was sollte sie nur tun?

Sie sah sich hektisch im Heizungsraum um. Sollte sie sich eine Waffe holen? Das Regal mit den Gartenscheren war direkt neben der Tür, aber da kam sie jetzt nicht mehr hin.

Heinrich machte die Tür auf.

„Was wollen Sie hier?“, schrie sie, versuchte ihn mit ihrer Stimme wieder rauszubrüllen. Ihre Hände krallten sich am Handtuch fest.

Heinrich blieb abrupt in der Tür stehen und schaute sie verwirrt an.

Sandra stand ebenfalls wie erstarrt da, auf einen Angriff gefasst. Was würde er jetzt machen? Sie anspringen? Hätte sie bei seinem Körpergewicht überhaupt die geringste Chance?

Heinrich bewegte sich immer noch nicht. Er starrte sie an, als wüsste er gar nicht, wie er eigentlich hergekommen war. Wie gebannt klebten seine Augen an ihrem umgewickelten Handtuch. Dann machte er mit der Hand langsam eine kleine Bewegung, als würde er sich einem bissigen Hund nähern. „I-ich wo-wollte Sie n-nicht erschrecken“, sagte er zögerlich. „E-es tut m-mir leid, w-wenn i-ich da-das getan ha-habe.“

Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen prüfend an. Wie schlau war er wirklich? War sein Stottern echt? Was wollte er hier? Sie konnte ihn nicht durchschauen. „Was haben Sie hier zu suchen?“, fragte sie forsch.

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Er wich ein Stück zurück und wirkte wie ein verängstigtes Kind. „I-ich … i-ich …“, stammelte er und schaute verlegen auf den Boden. Der Anblick der nur in ein Handtuch eingewickelten Sandra machte ihn sichtlich nervös.

„Was machen Sie in meinem Garten? Und wieso schleichen Sie hier ums Haus und erschrecken mich fast zu Tode?“

Er versuchte einen neuen Ansatz: „I-ich ha-habe mitbeko-kommen, da-dass Sie de-den Rasen entmo-osen. I-ich wo-wollte I-ihnen anbieten, d-das Mo-os a-auf unseren Mi-misthaufen zu bringen. So-sonst v-verrottet d-das nicht so-o schnell.“

War das die Wahrheit? Oder nur die beste Notlüge, die ihm spontan einfiel, nachdem er beim Spannen erwischt worden war? Wenn ja, dann war es eine wirklich gute Lüge. Sandra hatte sich noch nicht überlegt, was sie mit dem Moos anfangen sollte. Aber jetzt war sie zu aufgebracht, um es zu entscheiden.

Heinrich sah Sandra vorsichtig durch seine dicke Brille an, abwartend, wie sie jetzt reagieren würde.

„Ich glaube, es ist besser, Sie gehen jetzt. Wenn Sie das nächste Mal etwas von mir wollen, klingeln Sie bitte an der Vordertür, wie sich das gehört.“

Heinrich drehte sich um und zog langsam die Tür hinter sich zu, die die ganze Zeit offen gestanden hatte. Er murmelte noch etwas, Sandra konnte es nicht genau verstehen. Dann war die Tür zu.

Für einen Moment stand sie völlig regungslos da. Dann ging sie schnell zur Tür und drehte den Schlüssel um. Heinrich war nicht mehr zu sehen.

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Sie ließ sich auf den Boden sinken und wickelte das Handtuch fest um ihren Körper. Ihr war kalt. Mit dem Rücken lehnte sie sich an die Tür und schloss die Augen. Was war da eben passiert? Wollte ihr Nachbar ihr wirklich etwas antun?

Vielleicht hatte sie ja doch etwas überreagiert. Er hatte sie wahrscheinlich auf dem Mäher und beim Harken gesehen und wollte einfach nur nett sein.

Andererseits hatte sie gehört, dass er Frauen hinterherschlich, sie beobachtete und sogar ein Mädchen vergewaltigt haben sollte. Und dann waren da noch sein Aussehen und seine riesigen Fischaugen, die ihm fast aus dem Kopf gefallen waren, als er sie so sah – in ihrem alten Shirt, oder eben mit dem Handtuch.

Was war richtig? Was war falsch? Warum war Marvin heute nicht ausnahmsweise mal früher da?

Sie ging nach oben und zog sich an. Ihr war richtig kalt geworden. Dann setzte sie sich in ihr kleines Auto und fuhr los, um Sophie abzuholen. Sie wollte nicht warten, bis die Kleine von den Großeltern gebracht wurde. Sandra wollte nicht alleine in diesem Haus sein.

Beim Vorbeifahren schaute sie kurz auf den Hof der Familie Hauser. Es war niemand zu sehen.

Wer seid ihr?


Sandra ist seit diesem Vorfall natürlich das Dorfgespräch. Aber es sind noch andere Dinge geschehen, die ihr merkwürdig erscheinen, sodass sie sich langsam Gedanken macht. Irgendetwas scheint mit den Leuten und dem gesamten Ort nicht zu stimmen.

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Am Morgen wurde sie von Sophie geweckt. Marvin hatte einen frühen Termin und war schon aufgebrochen. Sandra­ fühlte sich wie gerädert. Beim Frühstück musste sie sich zusammenreißen, damit sie nicht wieder einschlief.

Sophie hatte nicht viel Hunger. Nach ein paar Bissen sprang sie auf und sauste mit ihrem kleinen Puppen­wagen im Flur hin und her. Sandra räumte den Tisch ab und überlegte, ob sie mit den Mooshaufen weitermachen sollte, aber irgendwie hatte sie dazu heute überhaupt keine Kraft.

Sie ging zum Briefkasten, um die Zeitung zu holen. Vielleicht stand etwas Aufheiterndes drin.

Die Zeitung war ziemlich fest eingekeilt, da noch allerlei Werbung und Briefe im Kasten steckten. Mit einem Ruck zog Sandra an dem dicken Bündel, so dass der gesamte Inhalt im hohen Bogen aus dem Briefkasten flog und auf der Treppe landete. Auch das noch!

Sie bückte sich und sammelte die Briefe und Prospekte ein. Zwischen der Werbung fand sie einen Schlüssel. War der im Briefkasten gewesen? Er war schwer und dick, wie der ihres Schlafzimmers. Sofort dachte sie an den Raum im ersten Stock, für den sie keinen Schlüssel bekommen hatten. Sollte es der vielleicht sein? Aber wo kam der auf einmal her?

Sandra warf die Post auf den Küchentisch und nahm Sophie auf den Arm, damit die Kleine nicht alleine unten bleiben musste.

Oben angekommen setzte sie ihre Tochter ab und steckte voller Erwartung den Schlüssel ins Loch. Sie drehte. Er bewegte sich. Mit einem leisen Knarren ließ sich die Tür

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öffnen. Ihr Herz machte einen Luftsprung vor Anspannung.

Im Zimmer war es dunkel, da die Gardinen zugezogen waren. Sie nahm Sophie wieder auf den Arm und ging zum Fenster, um Licht hereinzulassen. Staub rieselte ihr entgegen, als sie die Vorhänge aufzog.

Es gab nur dieses eine Fenster. Der Fußboden war mit alten Holzdielen ausgelegt. Der Raum war nicht allzu groß und leer. Hier muss lange keiner mehr drin gewesen sein, dachte sie. Überall lag dicker Staub und unzählige Spinnweben hingen an der Decke. Die abgenutzte Tapete hatte ein hässliches, altmodisches Blumenmuster. Die Fensterscheiben waren ganz milchig und vergilbt.

Mit einem Ruck öffnete sie das Fenster und ließ frische Luft in den Raum. Sie schaute hinaus und sah, dass man direkt in Familie Hausers Apfelgarten gucken konnte.

Sophie wollte auf den Boden gelassen werden und Sandra setzte sie ab. Die Kleine rannte zielstrebig auf eine kleine Nische zu, die Sandra bis jetzt noch gar nicht gesehen hatte. Der Raum war doch nicht ganz leer, denn hier standen ein paar Kartons. Obenauf lag eine völlig eingestaubte Puppe.

Sophie riss sie sofort an sich. „Püppi!“, sagte sie aufgeregt und drückte die Puppe, die braune Staubflecken auf ihrem Pullover hinterließ.

„Warte, Sophie. Ich mach sie dir sauber.“ Sandra nahm ihr die Puppe ab und entfernte den Staub. Es war eine dieser altmodischen mit Porzellankopf und Schlafaugen. Bei einem fehlten bereits die Wimpern und ihr Kleid war von oben bis unten verdreckt. Sophie hat so viele Puppen, dachte Sandra, warum musste sie ausgerechnet dieses hässliche Ding finden …

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„Haben, haben!“, schrie Sophie und streckte ihr die Hand entgegen. Sandra lächelte und gab ihr die Puppe zurück. Bei Gelegenheit würde sie das Kleid waschen und das ganze Ding mal gründlich saubermachen.

Voller Neugier zog Sandra den ersten Karton zu sich. Unter der dicken Staubschicht war allerlei Gerümpel verborgen, wie man es auf Flohmärkten fand. Sandra fragte sich allerdings immer, wer so etwas kaufte.

Sie wühlte weiter und fand einen vergilbten Zeitungsausschnitt. Als Datum konnte sie den 15. Juli 1993 erkennen. Sechzehn Jahre alt, dachte sie.


Erholungsbesuch aus Tschernobyl

Zu unserer großen Freude erreichte unsere Redaktion die Nachricht, dass in diesem Jahr zum ersten Mal Kinder und Jugendliche aus der sowjetischen Stadt Tschernobyl bei uns in der Natur in und um Seesby Erholung finden sollen.

Seit der Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 nahe der Stadt Prypjat ist das Leben dort nicht mehr das, was es vorher mal war.

Der Unfall, der als einer der schlimmsten Umweltkatastrophen aller Zeiten gilt, führte bei einer nicht genau bekannten Zahl von Menschen zum Tod und schweren Erkrankungen. Zu den bisher am häufigsten beobachteten gesundheitlichen Folgen gehört ein dramatischer Anstieg der Fälle von Schilddrüsenkrebs und Leukämie bei Personen, die zum Zeitpunkt des Unglücks Kinder und Jugendliche waren, wobei letzteres bisher noch nicht eindeutig bewiesen ist, allerdings aber auch nicht widerlegt werden kann.

Um das kurze Leben dieser erkrankten und unschuldigen Seelen aufzuhellen, hat Seesbys Bürgermeister Wolfgang Stiezel seine Beziehungen spielen lassen und einen Austausch organisiert. Vierzehn Jungen und Mädchen im Alter von 8 bis 14 Jahren werden diesen Sommer vier Wochen bei Familien in Seesby und Rugstedt verbringen und für eine kurze Zeit ein unbeschwertes und fröhliches Leben erfahren, das in ihrer alten Heimat nicht mehr möglich ist.

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„Wenn alles gut klappt und es von den Kindern gut angenommen wird“, so Stiezel zu unserer Zeitung, „werden wir in den nächsten Jahren auch wieder kranke Kinder zu uns nehmen und versuchen, ihnen eine erholsame und sorgenfreie Zeit zu geben.“

Wer im nächsten Jahr noch Kinder aufnehmen möchte, möge sich bitte mit unserer Redaktion in Verbindung setzen.


Sandra konnte sich noch an die Katastrophe erinnern. Sie war damals sieben Jahre alt gewesen und wusste noch genau, dass sie auf einmal keine Milch mehr hatte trinken dürfen, da man nicht gewusst hatte, wie weit die Strahlung vorgedrungen war. Stattdessen hatte sie von ihren Eltern Kalktabletten bekommen, um den Knochenbau dennoch zu fördern.

Über dem Artikel war ein Bild abgedruckt. Sie erkannte Wolfgang Stiezel, der mit breitem und offenem Lachen zwischen Kindern stand, die scheu in die Kamera guckten. Sie waren dünn und blass und wirkten eingeschüchtert. Ist wahrscheinlich normal, dachte Sandra. Immerhin haben sie ihre Heimat verlassen und leben einen Monat in der Fremde.

Wie viele von ihnen mochten heute noch leben? Sie empfand tiefes Mitgefühl mit diesen Jungen und Mädchen.

Mit einem Mal glaubte sie etwas auf dem Foto wiederzuerkennen und hielt die Zeitung ins Licht, um besser sehen zu können. Ein Mädchen in der ersten Reihe, es mochte etwa acht Jahre alt sein, schaute ängstlich in die Kamera und hielt eine alte Puppe mit Porzellankopf und Schlafaugen in der Hand. Sandra meinte, die Puppe zu erkennen, die hier im Karton gelegen hatte und jetzt von Sophie heiß geliebt wurde.

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Wie kam die hierher? Wahrscheinlich hatte Frau Köbing damals auch Kinder aufgenommen und die Puppe war hier geblieben.

Sandra schaute sich das Gesicht der Kleinen genauer an. Sie wirkte so zart und verletzlich. Wie viel Schmerz musste dieses Kind schon erlitten haben? Vielleicht hatte es Familie und Freunde verloren. Wenn man einmal etwas verliert, dann passt man auf, dass so etwas nicht wieder vorkommt. Warum hatte sie ihre Puppe vergessen?

Sandra hatte als kleines Mädchen mal ihren Lieblingshaarreifen an einer Autobahnraststätte liegenlassen. Als sie es bemerkt hatte, war für sie eine Welt zusammengebrochen. Natürlich konnte man einen Haarreifen nicht mit seinen Liebsten und einem gesunden Leben vergleichen, aber Sandra glaubte, sich das Gefühl des Mädchens vorstellen zu können, als es plötzlich gemerkt haben musste, dass die Puppe nicht mehr da war. Auf einmal unerreichbar und viel zu weit weg.

So ein Mädchen vergisst keine Puppe, dachte sie. Wenn man in dem Alter ohne Eltern so weit verreist, ist eine Puppe eine enorm wichtige Verbindung nach Hause.

Mit einem Mal erschien ihr das hässliche Ding in einem ganz neuen Licht. Sie würde Sophie sagen, dass sie gut drauf aufpassen musste. Aber so wie ihre Tochter die Puppe jetzt schon liebte, musste Sandra sich wohl keine Sorgen machen.

Sie stöberte noch ein bisschen in den Kartons, konnte aber in dem billigen Flohmarktramsch keine weiteren interessanten Sachen finden.

Sandra stand auf und klopfte sich den Staub von der

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Hose. In den nächsten Tagen würde sie hier mal gründlich saubermachen. Diesen Raum konnte man gut als Lesezimmer einrichten. Oder vielleicht einen begehbaren Kleiderschrank daraus machen, weil er direkt neben dem Schlafzimmer lag.

Sie nahm Sophie hoch und ging mit ihr nach unten.

Sandra war immer noch ganz aufgeregt, weil der Schlüssel auf einmal aufgetaucht war. Hatte der Makler den vielleicht doch noch gefunden und in den Briefkasten geworfen? Aber warum hatte er nicht wenigstens eine Nachricht zusammen mit dem Schlüssel hinterlassen? Es war sehr merkwürdig.


So viel sei gesagt: die Puppe ist nicht das einzige, was Sandra in dem Raum findet…


Mitten in der Nacht wurde Sandra von einem Klappern geweckt. Es kam von draußen. Sie lauschte kurz, dann stand sie auf.

Vom Schlafzimmerfenster aus konnte man direkt auf den alten Schuppen sehen, der früher die Schmiede beherbergt hatte und jetzt mit allerlei Gerümpel von Sandra und Marvin vollgestellt war.

Als Sandra aus dem Fenster sah, war der Schuppen hell erleuchtet und komplett leer geräumt. Der gesamte Inhalt lag unsanft übereinandergeworfen davor.

„Wir werden beklaut, Marvin. Da räumt jemand unseren Schuppen aus!“, schrie sie und drehte sich um.

Marvin war nicht da.

Plötzlich ging die Tür auf und ein Dorfbewohner nach

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dem nächsten betrat das Schlafzimmer. Flüsternd näherten sie sich ihr. Einige mussten sich auf das Bett setzen, weil der Raum zu klein für alle wurde.

Sandra stand wie erstarrt da und wollte schreien, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle.

„Marvin ist nicht da“, sagte Wolfgang und sein Kopf kam ihr unheimlich nah.

„Niemand ist da“, sagte Frank Riedler von der anderen Seite des Bettes. Er hatte sich mit Marvins Decke zugedeckt.

„Wir lassen nicht zu, dass jemand einfach irgendwelche Sachen in den alten Schuppen stellt. So was macht man hier in Seesby nicht“, flüsterte Jutta und starrte Sandra mit großen Augen an.

„D-das ge-geht so ni-nicht“, stotterte Heinrich und hielt eine von Sandras Unterhosen in den Händen. Mit einer übertrieben langen Zunge leckte er gierig durch den Schritt.

Sandra war schweißnass. „Wo ist Marvin?“, schrie sie.

Wolfgang presste ihr seine Hand auf den Mund. „Schrei nicht so laut“, sagte er mit seiner ruhigen Stimme. „Wir wollen nicht, dass dich jemand hört. Alles soll so bleiben, wie es ist.“

Sandra drehte sich hin und her, um sich aus seinem Griff zu befreien. Dann biss sie zu und er musste seine Hand wegnehmen. Sie schrie, so laut sie konnte: „Marvin! Marvin! Marvin!“

*

„Sandra? Sandra, was ist denn?“ Marvin packte sie und schüttelte ihren steifen, kalten Körper, damit sie sich wieder beruhigte. Langsam erschlafften ihre Glieder. „Das war nur

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ein Traum“, flüsterte er in ihr Ohr, „nur ein Traum.“

Sandra weinte. Ihre Decke lag am Fußende. Mit einem Arm griff er danach und legte sie um ihren zitternden, tauben Körper.

„Schsch. Ist ja gut. Es war nur ein Traum.“ Er hielt sie so fest er konnte und wiegte sie langsam hin und her. Was war nur mit ihr los? In Hamburg hatte sie nie solche Alpträume gehabt.

„Das war nicht nur ein Traum“, murmelte sie und obwohl ihr Mund direkt an seinem Ohr lag, konnte er sie kaum verstehen. „Das ganze Dorf sagt, ich soll mich nicht einmischen und in Seesby alles so lassen, wie es ist. Das ist kein Traum.“

Marvins Kehle zog sich zusammen. Wieder dieses Thema. Aber vermutlich hatte das Dorf recht. Sandra steigerte sich immer mehr in diese verzwickte Geschichte rein. Wie konnte er sie nur davon abbringen?

Sandra lag schweigend in seinem Arm und starrte ins Leere.

Er betrachtete seine Frau sorgenvoll, als sie sich wieder hinlegte. War es wirklich richtig gewesen, nach Seesby zu ziehen? Von der Idylle, die sie sich vorgestellt hatten, war noch nicht viel zu spüren gewesen.

Sie wirkte nur wie ein Häufchen unter der Decke. Fast so, als würde hier lediglich ihr Schatten liegen. Ihre Augen waren geschlossen und mit dunklen Furchen umrandet. Das sonst so schöne und leuchtende Gesicht war aschfahl und dünn.

„Versuch zu schlafen. Denk dran, es ist immer nur ein Traum. Wir haben es hier doch schön in unserem eigenen

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Haus auf dem Land. Es war immer dein größter Wunsch.“ Man konnte es sich zumindest einreden.

Er küsste ihren Mund. Ihre trockenen und müden Lippen bewegten sich kaum.


Auch wenn es in diesem Fall tatsächlich nur ein Traum war, so weiß Sandra, dass sie der Wahrheit gar nicht so fern ist. Die Vermutungen, dass hier ein Verbrechen vertuscht werden soll, spitzen sich immer mehr zu. Die Dorfbewohner wenden sich nach und nach von ihr ab, erklären sie für verrückt. Selbst mit Marvin gerät sie mehr und mehr in Streit. Nur auf Madeleine kann sie noch hoffen…


Sandra war aufgeregt, als sie aus dem Auto stieg, und konnte es kaum abwarten, dass Madeleine sich meldete.

Sie ging mit Sophie die Treppen hinauf und öffnete die Tür.

Da Marvins Auto nicht auf dem Hof stand, erwartete sie auch nicht, dass er da war. Sie hoffte allerdings, dass er sich vielleicht doch noch gemeldet hatte, aber auf dem Anrufbeantworter war keine Nachricht.

Enttäuscht ging sie unter die Dusche und bereitete dann für sich und Sophie das Abendbrot zu. Wenn Marvin noch kommen sollte, falls er es überhaupt tat, musste er sich halt selbst noch etwas zu essen machen.

„Nudel essen?“, fragte Sophie, als Sandra den Küchentisch deckte.

„Nein, mein Schatz, heute essen wir Brot.“ Nudeln konnte sie ihrer Tochter ja leider nicht mehr anbieten, da die Sauce im gestrigen Streit als Wurfgeschoss missbraucht worden

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war.

Wieder dachte sie an Marvin und es tat weh. War es vielleicht wirklich aus zwischen ihnen? Warum konnten sie nicht mehr miteinander reden?

Instinktiv schaute sie aus dem Fenster und hielt nach ihm Ausschau. Es war aber weit und breit niemand zu sehen.

*

Der Mann duckte sich schnell und versteckte sich eine Weile hinter einem Strauch. Fast hätte sie ihn gesehen. Vorsichtig kam er erneut zum Vorschein und beobachtete sie in der Küche. Sie war wieder mit ihrer Tochter beschäftigt.

Ein süßes Ding. Eines Tages wird sie bestimmt genauso hübsch werden wie ihre Mutter, dachte er und spürte die Spannung in seiner Hose.

Langsam stand er auf und trat seine Zigarette aus.

So unauffällig, wie er gekommen war, machte er sich wieder auf den Weg nach Hause. Es war ja nicht weit.


Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht verraten, liebe Leserinnen und Leser! Sandra steht einem bisher ungeahnt großen Gegner gegenüber, der vor nichts zurückschreckt…

Aber lesen Sie doch selbst! Ich wünsche spannende Lesestunden und freue mich über Ihr Feedback!

Ihre Ellen Puffpaff

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